Marcus Steinweg

Kunst ist Widerstand gegenüber dem, was ist.

Kunst und Philosophie verbindet eine Art Geometrisierung des Inkommensurablen. Die Formbehauptung der Kunst gibt der Formlosigkeit einen Umriss. Zum Kunstwerk gehört, dass seine Konsistenz dem Inkonsistenten geschuldet bleibt. Die Konsistenz des Werks ist seiner Unsichtbarkeit entrissen. Immer geht es für die Kunst darum, eine Sichtbarkeit herzustellen und zu verteidigen, die jeder Selbstverständlichkeit entbehrt. Deshalb ist die Apparenz des Werks eine Überraschung, weil ihre Evidenz von der Ordnung des Nichtevidenten ist. Es gibt Kunst in dem Moment, in dem diese Apparenz ein Loch in das Tatsachengewebe reisst, um die Evidenz der instituierten Realitäten zu verfinstern, nicht durch Obskurantismus oder Verdunkelung, sondern durch Klarheit, durch ein Übermass an Evidenz, das den Verstand und die Sinne blendet. Der Moment dieser Blendung, die nach Kategorien oder Begriffen verlangt, die nicht zur Hand sind, ist der Moment der Apparenz, Moment, in dem die Notwendigkeit des Werks aufscheint, während das Subjekt nach seinen Motiven sucht. Zum Kunstwerk gehört diese Kraft durch Klarheit zu verstören, die Gewissheiten des Subjekts zu suspendieren, „das Wirkliche außer Kraft zu setzen”¹. Nie hat es Kunst gegeben, die mit dem Wirklichen koalierte. Kunst ist Widerstand gegenüber dem, was ist. Nicht im Namen dessen, was sein sollte, sondern im Namen des namenlos gebliebenen Anteils der etablierten Realität. Man kann diesen Anteil des Namenlosen das Reale nennen oder das Außen. Man kann von ihm sagen, dass er die Wahrheit einer realen Situation, einer situativen historischen Textur benennt. Im Kunstwerk kommunizieren die offizialisierten, anerkannten Realitäten mit diesem Widerstand, der nichts als ihre Inkommensurabilität benennt: das Formlose, das sich seiner Formalisierung widersetzt. Das Werk ist der Ort dieser zwingend scheiternden Kommunikation.

Die Suspension seiner Wirklichkeit und die Transzendenz seiner Bedingtheit setzt ein Verhältnis des Werks zur Wirklichkeit als dem Feld der objektiven Bedingungen voraus. Dieses Verhältnis kann als affirmative Destruktion beschrieben werden. Ein Kunstwerk verhält sich zu seiner objektiven Wirklichkeit notwendig destruktiv. Es zerstört den Raum seiner Realität, weil es einer Inkonsistenz Konsistenz verleiht, die die anerkannten Realitäten ihrer Beliebigkeit überführt. Beliebig sind diese Realitäten - die Tatsachenevidenzen - weil ihre Konsistenz sich auf die Funktion der Verdeckung und Lebbarmachung einer Inkonsistenz beschränkt, die die universelle Kontingenz, das Chaos, ist. Das Kunstwerk kann nicht selbst diese Funktion übernehmen, weil es den Übergang oder die Schwelle zur Inkonsistenz markiert. Das ist der Ort des Werks: diese Schwelle zwischen der Ordnung der Tatsachen und dem Raum einer radikalen Ungeordnetheit, der die Dimension der Wahrheit der instituierten und gefestigten Realitäten ist.

Die Schwelle und damit das Kunstwerk öffnet sich nicht auf eine zweite Welt, die in irgendeinem Sinn realer wäre als die „Realität”. Es öffnet sich auf die Realität in ihrem Inkommensurabilitätsstatus. In Lacanianischen Begriffen: Die Realität ist das Reale. Nur weiss sie es nicht und will sie es nicht wissen und kann es auch nicht wissen, weil Realität der Name eines fundamentalen Nichtwissens ist, das sich als Nichtwissen verbirgt, indem es vorgibt zu wissen, indem es also sein Nichtwissen als Wissen maskiert. Die Öffnung auf das Reale ist Berührung des Nicht-Gewussten dieses Nichtwissens, Wahrheitsberührung, insofern Wahrheit der Name der Inkonsistenz des Konsistenzraums ist, den wir Realität nennen. Es gibt ein Werk, wenn es eine solche Berührung gibt. Das Kunstwerk ist Artikulation dieser Chaosantastung, indem es einer doppelten Anstrengung folgt: Es berührt das Inkommensurable, indem es ihm Form gibt. Es präzisiert das Chaos, während es ihm widersteht. Es entscheidet sich weder für das Reale noch für die Realität. Es öffnet sich der grauenhaften Wahrheit, dass die Realität bereits das Reale ist, dass also jede Konsistenz, jede Gewissheit, jede Tatsache über dem Abgrund einer Inkonsistenz schwebt. Das Werk ist selbst in der Schwebe. Es artikuliert sich als eine über diesen Abgrund gehaltene Konstruktion.

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¹ Gilles Deleuze, „Erschöpft”, in: Samuel Beckett, Quadrat, Geister-Trio, ...nur noch Gewölk..., Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, Frankfurt a. M. 1996, S. 56.

Christina Lanzl, Sculpture Magazine USA, Vol. 28 No. 9, 2009

Public Art Practice in Berlin

... Günschel's most recent public art commission is an Art on the Tree/Kunst am Baum project along Wisbyer Straße in Berlin's Pankow district. Innenhaut-Aussenhaut (Inner skin-outer skin) uses protective tree paint as a medium for stencil designs on tree trunks.
Inspired by popular tapestry pattern from various eras, the designs allude to the area's status as an upscale residential community – before a sharp increase in traffic led to a decline in its popularity. The tree drawings mark three important pedestrian crossings along Wisbyer Strasse. Günschel's project is noteworthy for its innovative use of materials and its ecological merit ...

Media Indonesia, 27.08.2008

Elisabeth Lynch, Sculpture Magazine USA, Vol. 28 No. 8, 2009

Heads, shifting

....These contemporary heads, which are installed at Humboldt's new Adlershof campus in southeast Berlin, also allude to two classicizing monuments on the university's central campus – one of Wilhelm von Humboldt, the schools founder, and the other of his brother, Alexander von Humboldt, a natural scientist. While Günschel and Smolka developed Heads, shifting, in part, to refer to the statues on the main campus, "the effect is not ... one of the classical sculpture: (the heads) neither represent a particular person nor are they static. They challenge the traditional intentions of such sculptures and playfully transfer them into the present". Activating the entrance of the Adlershof Campus, which houses the university's science and math facilities, the heads "address the nature of relationships between people (and) refer to the process of researching, discovering and learning."

Christine Hoffmann

Zur Installation von Josefine Günschel in der Galerie o zwei (1994)

Wahrhaft ein November-Stück in der Galerie o zwei. Wer sich entschließen kann, seine dämmrige Höhle zu verlassen, den Oblomov beiseite zu legen und sich auf den Weg macht, mit hochgeschlagenem Mantelkragen übers dunkelglänzende Pflaster hinein in den hellerleuchteten Galerieraum, findet dort einen anschaulichen Exkurs zur Motorik der Melancholie.

Günschel, die als Spezialistin für zart-stichelnde Wahrnehmungsinterventionen unter anderem in den "nachtbogen"-Projekten in Erscheinung getreten ist, wendet sich mit ihrer Installation der „faulen Last der Erden”, wie die Melancholie sich in den Worten eines Barockdichters selbst kennzeichnet, zu.

Mit der Faulheit ist es eine Last, die vor allem darin besteht, sie zu überwinden. Der Zustand dieser Überwindung ist zumeist von den völlig unheroischen Gebärden des Widerwillens durchsetzt. Und Widerwille teilt sich am deutlichsten in Körperhaltungen und Bewegungsabläufen mit, der Körper entlarvt innere Zustände, die die Sprache lieber umwandelt und der Wahrnehmung verbirgt.

Günschel stellt eine Reihe von fünf aschgrauen Schaumstoffsäulen in den Raum und setzt sie den kicks von metallisch ächzenden Anstoßmaschinen aus. Die Säulen schwanken, nicken, kippen vornüber und fallen dann wieder beinahe in den Ruhezustand zurück. Die Anstöße sind so dosiert und verteilt, daß sich der rechte Schwung nicht einstellen will. Zwischendurch stehen die Säulen still, die Schwere, die sich in ihren Bewegungsabläufen mitteilte, weicht der schwebenden Gelassenheit des Ruhezustandes.

Daß Ruhe in gegensätzlichen Empfindungszonen erlebt werden kann, als freiwilliges Loslassen, einsichtiges oder resigniertes Seinlassen, erzwungenes Bleibenlassen, nicht-Tun und Stillhalten, daß sie als tiefes Ausatmen, aber auch als kalte Erstarrung in Erscheinung tritt, daß sich eine beunruhigende Vielfalt von Zuständen in einer Kennzeichnung verbirgt, ist nur einer der Assoziationsströme, den die Arbeit von Günschel in Gang setzt.

Das Bewegungsgefüge, das sie ausschnitthaft darstellt, ruft beim Betrachter ganz körperlich die Erinnerung an die Mühe des Daseins wach, die oft komische Unbeholfenheit und Vergeblichkeit unserer Anläufe, mit der Trägheit des Körpers auch die Trägheit des Herzens zu überwinden.
Und daß sich über die Wahrnehmung einer Bewegung dem Betrachter die Komplexität innerer Umstände unmittelbar erschließt, spricht für die Kraft und Genauigkeit der Installation. "Man teilt sich nie Gedanken mit, man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf den Gedanken hin zurückgelesen werden" (Nietzsche)

Katrin Bettina Müller, TIP 26/1994

Wie verwandelt man die Furcht, im dunklen Keller von feuchten Spinnenfingern angetastet zu werden, in eine Skulptur von barocker Üppigkeit? Wie hält man die Leichtigkeit fest, mit der ein frischer Wind plötzlich Dreck und Trübsal aus der Stadt blasen kann? Für Josefine Günschel, Meisterin der Verwandlung von Räumen, ein feines Problem. In den Nachtbogen-Projekten in der Oderberger Straße tauchte sie das einemal in den Keller, um einen Pfeiler mit übereinandergehängten Gummihandschuhen vielfingerig auszustatten: Aus dem Ekel vor der Berührung entstand eine Struktur, ähnlich den Grotten barocker Schlossgärten, die die Angst in Lust umschlagen ließen. Das nächste Mal ließ Günschel Gardinen in weitem Schwung aus den Fenstern eines Hauses wehen, und obwohl die Bewegung im Faltenwurf der weitvorgebauschten Vorhänge erstarrt war, glaubte man, den Luftzug zu spüren. Diesmal bewegt sich wirklich etwas in ihrer Installation in der Galerie O Zwei: etwas, das eigentlich per Definition zur Unbeweglichkeit verurteilt ist. Fünf graue Säulen schwanken, von Maschinen angestoßen, bis sie wieder in der Senkrechten zur Ruhe kommen. Kann man erst nicht genug von der Bewegung bekommen, wünscht man sich bald zurück zur Trägheit. Und beginnt zum erstenmal als Glück zu empfinden, dass die Häuser nicht in der Stadt herumlaufen können.